In der jüngeren Vergangenheit – forciert durch die Entwicklungen im Zuge der Digitalisierung – hat die kundenorientierte Ausgestaltung unternehmerischen Handelns erneut große Aufmerksamkeit erhalten. Propagiert werden seitdem die Begriffe „Kundenorientierung“, oder „Customer Centricity“, die das Wohl und die Interessen des Kunden in den Mittelpunkt stellen. Seither wollen Unternehmen „vom Kunden her denken“ und ihre Angebote konsequent auf die Wünsche des Kunden ausrichten.
Während also gesellschaftliche Veränderungen und steigende Ansprüche der Kunden Eingang in vermeintlich neue Überlegungen zur Kundenorientierung finden, konzentrieren sich die Auswirkungen der Digitalisierung in Bezug auf das Kundenbeziehungsmanagement hingegen bislang primär auf die Integration einzelner (Kommunikations-)Technologien oder die Optimierung entsprechender CRM-Systeme.[1] Der eigentlichen Idee und Bedeutung des Kundenbeziehungsmanagements – nämlich einer am Kunden ausgerichteten Unternehmenssteuerung – wird damit jedoch nur unzureichend gerecht.
Bei näherer Betrachtung lässt sich feststellen, dass es sich bei dem Konzept der „Kundenorientierung“ keineswegs um eine neue Denkweise handelt. Vielmehr lässt sich das Konzept der Kundenzentrierung aus dem Paradigma des Kundenbeziehungsmanagements ableiten. Neu ist lediglich der Ansatz, die Perspektive des Kunden einzunehmen und aus dessen Sicht auf die Unternehmensstrategie, organisationale Strukturen, Prozesse und Leistungsangebote zu blicken.
Ziel meiner Dissertation war es, (1) diesen Perspektivwechsel auf das Kundenbeziehungsmanagement zu übertragen und (2) die Auswirkungen aktueller Entwicklungen der Digitalisierung zu untersuchen. Im Mittelpunkt stand dabei der Wert, oder der Nutzen, der aus der Beziehung zwischen Kunde und Anbieter entsteht. Während es bei bisherigen Betrachtungen zumeist um den Wert des Kunden für das Unternehmen geht (welchen Wertbeitrag liefert der einzelnen Kunden für das Unternehmen), habe ich mich mit dem Nutzen beschäftigt, der für den Kunden aus der Beziehung zum Versicherer resultiert.
Bislang bestehen für die Versicherungswirtschaft keine konzeptionellen Ansätze, sich dem Wert der Beziehung für den Kunden zu nähern und entsprechende Erkenntnisse in das Kundenbeziehungsmanagement einfließen zu lassen. Gerade vor dem Hintergrund einschlägiger Besonderheiten des Versicherungsprodukts und daraus resultierender charakteristischer Merkmale für die Kundenbeziehung lassen sich darüber hinaus Konzepte anderer Branchen stets nur bedingt anwenden. Vor diesem Hintergrund habe ich ein Kundenbeziehungsmanagement-Modell entwickelt, das erstens die Besonderheiten der Kundenbeziehungen von Versicherungsunternehmen widerspiegelt, zweitens die Wertkomponenten aus Kundenperspektive aus Ausgangspunkt heranzieht und drittens die Möglichkeit gibt, aktuelle Entwicklungen der Digitalisierung einzubeziehen.
Das Modell folgt dem Gedanken Zeithamls sowie den Grundannahme des Confirmati-on/Disconfirmation-Paradigmas zur Entstehung von Kundenzufriedenheit. Damit finden die Erwartungen des Kunden explizit Eingang in die Gestaltung des Kundenbeziehungsmanagements und die Berücksichtigung einer steigenden Erwartungshaltung im Rahmen der Digitalisierung wird ermöglicht. Für die Wertentstehung wurden drei der Beziehung immanente Ebenen angenommen
- Ebene der Kernleistung, die die bedürfnisinitiierte Nachfrage deckt. Durch steigende Kundenanforderungen und -erwartungen müssen Versicherungsunternehmen ihr Leistungsangebot erweitern. Um eine umfassende Absicherung in den Lebenswelten der Kunden anzubieten, sollten neben der materiellen Dimension auch die Dimension der externen Umgebung sowie die aktivitätsbezogene und die handlungsbezogene Dimension stabilisiert werden.
- Interaktionsebene: Im Rahmen der Interaktionsebene ergeben sich durch den Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien neue Interaktionskanäle und -ansätze. Gerade für Versicherungsunternehmen, die unter einer geringen Interaktionsfrequenz und damit einhergehend einer geringen Beziehungsintensität leiden, ergeben sich neue Potenziale im Kundenbeziehungsmanagement.
- Emotionale Ebene: Durch die Besonderheiten der Kundenbeziehung von Versicherungsunternehmen kommt der emotionalen Ebene eine besondere Bedeutung zu. Emotionen entstehen durch die Ebene der Kernleistung sowie die Interaktionsebene; daneben sind Image und Vertrauen in der Versicherungswirtschaft ausschlaggebend. Durch die Automatisierung von Prozessen und die Digitalisierung von Interaktionen lässt sich in diesem Kontext eine Verschiebung hin zu einer steigenden Bedeutung der Funktionsfähigkeit technischer Systeme sowie einem vertrauenswürdigen Umgang mit Kundendaten beobachten.
Aufgrund der Heterogenität der einzelnen Versicherungssparten und -zweige sind pauschale Ableitungen für die Versicherungsbranche nur schwer möglich. In Kombination mit der Erkenntnis, dass es im aktuellen Marktumfeld der Digitalisierung und der Entstehung von Ökosystemen einer umfassenden Problemlösung bedarf, die sich an der Lebensrealität des Kunden orientiert, habe ich anschließend die Lebenswelten „Mobilität“, „Wohnen“ und „Gesundheit“ betrachtet. In allen drei Lebenswelten sind Versicherer bereits in bedeutendem Umfang vertreten und bieten Versicherungsdienstleistungen an – es ergibt sich eine zunächst günstige Ausgangslage. Anhand des oben skizzierten Modells habe ich für die drei genannten Lebenswelten Ansatzpunkte für die Gestaltung der Kundenbeziehung identifiziert und Positionierungsansätze für Versicherungsunternehmen abgeleitet.
[1] Als Weiterentwicklung werden dabei u. a. die Verwendung sozialer Medien im Rahmen des Dialogmarketings (Social Customer Relationship Management, sCRM)[1] oder die Spezialisierung auf elektronische Komponenten (eCRM) betrachtet.