EY: Herr Prof. Dr. Wagner, Sie haben die Einflüsse und Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die deutsche Versicherungswirtschaft untersucht. Welche Schlussfolgerung ziehen Sie aus den Ergebnissen?
Prof. Dr. Fred Wagner: Die Versicherungswirtschaft ist in dieser schwierigen Zeit leistungsfähig geblieben. Mitarbeiter wurden rasch ins Homeoffice geschickt, um Infektionsrisiken zu minimieren. Dennoch konnten Kunden weiter beraten, Schadenfälle ohne bemerkenswerte Probleme abgewickelt und Prozesse aufrechterhalten werden.
Herr Korte, wie sehen Sie die Rolle der Versicherungen seit dem Shutdown im März?
Thomas Korte: Ich stimme Herrn Wagner zu. Gerade der Blick auf die Kunden ist wichtig, auch für die Reputation der Versicherungsbranche. Und es hat sich gezeigt, wie sicher der Hafen Versicherung bis dato ist. Die Verantwortung den Kunden gegenüber sollte man insbesondere im Kontext zu anderen Finanzdienstleistern wie Banken betrachten. Die Versicherer haben sich bislang hingegen als stabiler Anker erwiesen. Ein anderes Thema, das sich aus der Corona-Krise sicherlich ergibt, ist die Transformation der Branche bis hin zu einer möglichen Marktkonsolidierung.
Was verstehen Sie darunter?
Korte: Der Druck zur Digitalisierung wird steigen, was letztendlich den Kunden zugutekommt. Aus Corona wird sich die Frage nach der Digitalisierung für eine große Anzahl Versicherer und auch für Makler und Vertriebskanäle stellen, so dass diese sehr fokussiert einzelne Geschäftsprozesse digitalisieren werden.
Welche Vorteile dürfen Kunden erwarten?
Korte: Agilität, Flexibilität und Zugänglichkeit, zum Beispiel über Online-Plattformen.
Wagner: In unserer Studie haben wir nach Chancen gefragt, die die Versicherer infolge der Corona-Krise erwarten. Fast alle Teilnehmer haben das Stichwort Digitalisierung genannt, viele die Erschließung neuer Kundenschnittstellen. Beide Themen stehen in engem Zusammenhang. Ich kann mir vorstellen, dass im Zuge der Digitalisierung die Kundenzentrierung eine andere Bedeutung bekommt. Es könnte ein Nachdenken über die statischen Produkte einsetzen, die die Branche anbietet. Bislang gibt es Modelle, die nicht mal unterjährig gekündigt werden können. Jetzt sind andere Möglichkeiten denkbar, vielleicht sogar täglich mögliche Kündigungen. Das würde mehr Flexibilität und Service für den Kunden bedeuten.
Das wiederum kann Folgen für die Vermittlungsstrukturen haben.
Korte: Ja, wir sehen durchaus mehr Nachfrage zur Ausrichtung von Vertriebsmodellen, also zu diesen Fragen: Wie kommt das Produkt zum Kunden? Wie stellt sich der Vertrieb auf? Wie stellen sich Makler auf, die nicht nur, aber auch infolge der Corona-Pandemie vor ganz neuen Herausforderungen stehen? Es ist zu befürchten, dass einzelne Marktteilnehmer einer digitalen und schnellen Transformation so nicht gewachsen sind. Vorstellbar ist, dass kleine und mittlere Makler, aber auch Versicherer sukzessive konsolidiert werden. Die Studie deutet darauf hin, dass sich dieser Prozess infolge der Corona-Krise beschleunigen wird. Davon gehen immerhin 64 Prozent der Befragten aus.
Abgesehen von Kundenpflege und Vertriebsstrukturen, welche anderen Herausforderungen ergeben sich für die Versicherungsbranche aus der Corona-Krise?
Korte: Eine Pandemie ist aus Sicht der Versicherung ein in dieser Form nie da gewesenes großes Ereignis, das materielle Auswirkungen auf verschiedene finanzielle Aspekte eines Versicherers hat. An erster Stelle stehen Fragen nach regulatorischen und aufsichtsrechtlichen Anforderungen, zum Beispiel nach der Höhe der Eigenkapitalquote und der Entwicklung des Kapitalanlage-Portfolios: Wie war sie vor der Krise, wie ist sie danach? Sind am Ende des Tages noch genauso hohe Eigenmittel und Kapitalanlagen da wie vor der Krise?
Das erfordert eine umfassende Überprüfung der eigenen finanziellen Stabilität und Solvenz unter Berücksichtigung verschiedener zeitlicher Szenarien. Dies wird teilweise schon von der Aufsichtsbehörde nachgefragt. Denn niemand kann in die Glaskugel schauen und sagen, die Pandemie ist am 1. Juli, oder am 31. Dezember oder im nächsten Jahr vorbei. Die Langfristigkeit der Corona-Krise wird sowohl über den Geschäftserfolg entscheiden als auch über die regulatorisch-kapitalseitige Aufstellung der einzelnen Versicherer. Es gab schon vor der Krise manche Versicherer, die vor Herausforderungen standen. COVID-19 wird dies nun weiter verstärken. Das ist der eine Ankerpunkt. Der zweite ist die eben schon angesprochene Transformation.
Was bleibt auf diesem Feld zu tun?
Korte: Es stellt sich für Versicherer zum Beispiel die Frage, ob das nicht alles schneller laufen müsste. In den vergangenen Wochen und Monaten hat sich gezeigt, wie wichtig die Verschlankung, Vereinfachung und Digitalisierung von Prozessen sind. Ist jetzt nicht der Zeitpunkt, das weiter zu beschleunigen im Sinne des Geschäftsmodells, der Kunden und der Aufstellung? Sind die Mittel da, diesen Prozess voranzutreiben? Im Unterschied zu anderen Finanzdienstleistern sehe ich die Versicherer bei diesem Thema eher hinten. Es gibt sicherlich einige Speerspitzen, die weit voraus- und vordenken. Aber in der Breite sehe ich Nachholbedarf.
Wagner: Die Transformation hat aber inzwischen eine Entwicklungsdynamik, die vor Corona nicht absehbar war. Dass 96 Prozent der Mitarbeiter im Homeoffice arbeiten, hätte man nicht für möglich gehalten. Diese Entwicklung schärft den Blick, und es fallen Hemmungen, die Transformation anzugehen.
In Ansätzen steckte die Versicherungsbranche bereits vor COVID-19 im Wandel. Wohin geht die Reise nach der Krise?
Wagner: Eine erfolgreiche Transformation erfordert den Dreiklang Toolset, Mindset, Skillset. Sie benötigt Technologie, den Willen und die Fähigkeiten von Mitarbeitern, die darauf gut vorbereitet sind. Die Versicherer sind hier unterschiedlich aufgestellt. Die einen werden schneller vorangehen, andere werden nicht mithalten können. Daraus resultieren Kollateraleffekte.
Welchen Folgen resultieren für die Branche daraus?
Korte: Diese Kollateraleffekte können zu einer Konsolidierung beitragen. Deshalb sind Strategie und Transaktion für mich der dritte Ankerpunkt. Die Pandemie bietet die Chance, zu hinterfragen, was krisensicher ist und was nicht – auch hinsichtlich der Zinsentwicklung und der Implikationen für die Lebensversicherung. Und sie bietet auch die Chance für diejenigen, denen es gut geht, zu sehen, ob sie organisch oder anorganisch wachsen und zu prüfen, ob sie zum Beispiel in neue Geschäftsfelder hineingehen oder in einzelne Geschäfte einsteigen, weil es Konkurrenten schlecht geht. Umgekehrt sollten Versicherer, denen es nicht so gut geht, überlegen, ob sie den einen oder anderen Unternehmensbereich verkaufen. Im Moment beobachten wir viele Bestrebungen in diesem Bereich.
Wo sehen Sie die Versicherungswirtschaft in fünf Jahren?
Wagner: Ich traue mich nicht, in so langen Zeiträumen zu denken. In fünf Jahren werden wir eine andere Welt haben. Die Frage ist nur, welche.
Korte: Wir werden womöglich ein etwas anderes Verständnis von Versicherung haben. Werden die Versicherer verstärkt eine Kapitalsammelstelle oder Asset Manager oder der klassische Manager von Risiken sein? Das wird die Branche beschäftigen. Versicherer sind in der Pandemie bisher krisenfeste Partner. Das gibt Hoffnung, dass wir auch in fünf Jahren eine krisenfeste Branche sehen.