Personalengpässe in Kernfunktionen: Demografie und Digitalisierung erfordern neue Lösungen

In Zusammenarbeit mit der Strategieberatung Roland Berger hat die V.E.R.S. Leipzig die Studie „Resilienz im Target Operating Model – Druck durch demografischen Wandel“ durchgeführt. In deren Rahmen wurden Vorstände und verantwortliche Führungskräfte aus der Betriebsorganisation bzw. aus dem Bereich Personal von 25 Versicherungsunternehmen um ihre Einschätzungen gebeten, in welchen operativen Wertschöpfungsbereichen ihres Hauses der demografische Wandel die größten Herausforderungen mit sich bringt und welche Maßnahmen und Hebel nötig und möglich sind, um demografiebedingte Personalengpässe im Versicherungsunternehmen zu schließen bzw. deren Entstehung möglichst entgegenzuwirken.

Dringender Handlungsbedarf in wesentlichen Kernfunktionen
Im Zuge der demografischen Entwicklungen werden in den kommenden fünf bis zehn Jahren zahlreiche Fachkräfte der sogenannten Babyboomer-Generation aus dem Berufsleben ausscheiden und in den Ruhestand treten. Gleichzeitig ist der Nachwuchs aufgrund geburtenschwächerer Jahrgänge zahlenmäßig nicht in der Lage, diese Lücke vollständig zu schließen. Das stellt auch die Versicherungsbranche vor die Herausforderung, künftig mit einem geringeren Personalbestand auskommen zu müssen, um ihre operativen Aufgaben weiterhin bewältigen zu können. Aktuell sehen sich Versicherer in den operativen Kernfunktionen personell noch gut aufgestellt – mit moderaten Lücken im niedrigen einstelligen Bereich. Im Fünfjahreshorizont wird von einer Vergrößerung der Personallücke u. a. in den folgenden wesentlichen Operations ausgegangen: Kapitalanlage mit mehr als 20 Prozent Unterdeckung, IT mit neun Prozent sowie Bestands- und Schaden- und Leistungsbearbeitung mit neun bzw. drei Prozent Unterdeckung. Diese Funktionsbereiche, insbesondere der Kapitalanlagebereich und der Bereich IT, sind die „Sorgenkinder“ der Branche, da hier viel mathematisches und technisches Know-how benötigt wird, um das sowohl innerhalb der Branche als auch von der Versicherungsbranche mit anderen Industrien gebuhlt wird.

Setzen Versicherer weiterhin auf Altbewährtes?
Um den demografisch bedingten Druck auf die Personalausstattung zu verringern, werden von knapp drei Viertel der befragten Häuser v. a. Maßnahmen der Personalbindung als relevant identifiziert – vor dem Einsatz von Technologie und Digitalisierung sowie der Rekrutierung neuer Mitarbeitender. Während Personalbindung und -gewinnung bewährte Instrumente sind, stoßen diese dann an ihre Grenzen, wenn es insgesamt zu wenig qualifiziertes Personal gibt. Die Versicherer stehen zunehmend unter Druck, die Erwartungen in ihren Fachbereichen zu erfüllen und Personal zum einen zu binden, zum anderen offene Stellen mit möglichst passenden Kandidaten zu besetzen. Künftig wird es entscheidend sein, die Zusammenarbeit zwischen Fachbereichen und HR zu intensivieren, um entlang der gesamten Wertschöpfungskette gemeinsam zu definieren, welche Qualifikationen und neuen Kompetenzen – etwa im Umgang mit moderner Technologie – tatsächlich gebraucht werden. In den meisten Unternehmen fehlt bislang jedoch ein systematischer Austausch, der notwendig wäre, um den Herausforderungen des demografischen Wandels nachhaltig zu begegnen.

Erfahrungswerte nutzen und Neues wagen
Der gezielte Einsatz neuer Technologien zur aktiven Bewältigung demografiebedingter Personalengpässe ist bislang eher die Ausnahme. Zwar werden Automatisierung, Dunkelverarbeitung und Self-Service-Lösungen bereits in vielen Bereichen umfassend genutzt – jedoch primär mit dem Ziel, Effizienz zu steigern. Dass diese Technologien zugleich helfen können, den Auswirkungen des demografischen Wandels zu begegnen, ist ein positiver Nebeneffekt. Gerade deshalb werden in diesen etablierten Lösungen weiterhin gute Potenziale gesehen, um altersbedingte Lücken in der Personalstruktur abzufedern – Potenziale, die es künftig weiter auszuschöpfen gilt. Zudem können die Versicherer die Wirkungsweisen dieser Technologien bereits gut abschätzen und messbar machen – im Gegensatz zu neueren Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI). Hier ist die Mehrheit der Versicherer bislang noch zurückhaltend. Dennoch erwarten 60 Prozent der Befragten, dass KI in Zukunft ein großes bis sehr großes Potenzial bieten wird, um dem demografischen Druck auf die Personalressourcen entgegenzuwirken.

Keine „First Mover“, aber vielleicht „Early Follower“
Einer der Gründe für einen bisher nur geringen Einsatz von KI im demografischen Kontext kann im Mangel an praktischen Erfahrungen gesehen werden, etwa hinsichtlich konkreter Anwendungsfälle und geeigneter Einsatzbereiche. Das größte Potenzial von KI zur Abmilderung demografiebedingter Personalengpässe – aber insgesamt noch moderat – sehen die Unternehmen in der IT, im Schaden- und Leistungsmanagement sowie in der Betriebs- und Bestandsverwaltung – drei der vier Kernbereiche, in denen bereits in den nächsten fünf Jahren mit wachsenden Personallücken gerechnet wird. Entsprechend wird KI in diesen Bereichen zum Zeitpunkt der Befragung zumindest in begrenztem Umfang bereits genutzt, und ein weiterer Ausbau ist geplant. Anders sieht es in der Kapitalanlage aus: Obwohl hier eine vergleichsweise große Personallücke erwartet wird, werden zum Zeitpunkt der Befragung im eigenen Haus keine wesentlichen Beiträge von KI zur Lösung dieses Problems gesehen.

„Gut Ding braucht (noch) Weile“:
Derzeit scheint der Einsatz von KI stärker durch Effizienzüberlegungen als durch den Bedarf an Personalsteuerung motiviert zu sein. Nur eines der befragten Versicherungsunternehmen gibt an, die Verfügbarkeit von Personal bereits heute als zentrales Kriterium für die Auswahl von KI-Anwendungsfällen heranzuziehen und KI gezielt dort einzusetzen, wo die größten personellen Engpässe bestehen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass von Personalengpässen besonders betroffene Bereiche weiterhin funktionsfähig bleiben. In den meisten anderen Unternehmen wird KI dagegen entweder noch überwiegend in Form von Pilotprojekten erprobt oder punktuell – vor allem im Schadenmanagement – bereits etwas strukturierter eingesetzt. Ein umfassendes, unternehmensweites KI-Konzept, das gezielt auf die gesamte Wertschöpfungskette ausgerichtet ist, ist bislang die Ausnahme. Entsprechend zurückhaltend und unsicher sind derzeit auch die Einschätzungen zur tatsächlichen Wirkung von KI auf altersbedingte Personalengpässe.

Zum Hintergrund der Studie sowie zu ausgewählten Ergebnissen haben sich Herr Professor Fred Wagner vom Institut für Versicherungslehre an der Universität Leipzig, der Auftraggeber der Studie, Herr Doktor Christian Schareck, Senior Partner & Global Co-Head Insurance bei Roland Berger, sowie einer der Studienteilnehmer, Herr Jens Warkentin, Vorstandsvorsitzender der HDI Deutschland AG, zu einem gemeinsamen Austausch getroffen. Den Podcast können Sie hier ansehen: